Wenn Pferde unsere Gefühle spiegeln – über Authentizität und Vertrauen

Es gibt Gedanken, die uns wachhalten. Ein Satz im Kopf, eine Szene, die wir immer wieder durchspielen. Wir nennen es Sorge. Sie ist uns bewusst, wir können sie benennen. Doch hinter diesem Bewusstsein liegt eine zweite Schicht – die Angst, die nicht immer Worte findet. Sie sitzt tiefer, geformt durch alte Erfahrungen oder unausgesprochene Zweifel. Und manchmal steigt aus dieser Tiefe etwas nach oben, das wir nicht mehr nur denken, sondern unmittelbar spüren: Beklemmung. Ein Druck im Brustkorb, ein Kloß im Hals, ein schneller Atem.

So entfaltet sich ein Dreiklang: Sorge im Kopf, Angst im Unterbewusstsein, Beklemmung im Körper. Drei Ausdrucksformen derselben Wurzel.

Pferde als Spiegel der Inkongruenz

Wer mit Pferden Zeit verbringt, kennt diese Ebenen. Du kannst dir vornehmen, ruhig zu wirken – doch dein Körper verrät die innere Enge. Pferde reagieren darauf sofort. Sie spüren den Widerspruch zwischen den Worten „Alles gut“ und der Spannung in deiner Schulter. Linda Kohanov beschreibt in The Tao of Equus, dass Pferde besonders fein auf Inkongruenz reagieren: Wenn ein Mensch etwas anderes zeigt, als er wirklich fühlt, erzeugt das Misstrauen. Nur wenn wir mit unseren Gefühlen im Einklang sind – selbst wenn diese Gefühle Angst oder Unsicherheit sind – entsteht Authentizität, und das Pferd kann sich verbinden.

Doch wichtig ist auch: Nicht jedes Pferd kann diesen Raum halten. Ein entspanntes Pferd, das mit sich selbst im Reinen ist, wirkt regulierend. Seine Präsenz, sein gleichmässiger Rhythmus, die Ruhe in seiner Atmung helfen uns, selbst zur Ruhe zu kommen. Ein gestresstes Pferd hingegen überträgt seine Anspannung und verstärkt die Unruhe. So wie wir selbst authentisch sein müssen, um Verbindung zu schaffen, so brauchen auch Pferde Balance, damit sie zu Partnern in der Heilung werden können.

Gefühle zulassen statt unterdrücken

In unserer Kultur haben viele von uns gelernt, Gefühle zurückzuhalten. „Sei stark. Sei tough. Zeig dich kompetent.“ Verletzlichkeit wird oft mit Schwäche gleichgesetzt. Doch das, was wir verbergen wollen, verlässt uns nicht. Es bleibt als Spannung im Körper gespeichert, als Enge im Atem oder als Unruhe im Herzen.

Pferde entlarven diese Masken sofort. Sie suchen nicht das Bild nach aussen, sondern die Wahrheit im Inneren. Und sie reagieren entspannter, wenn wir unsere Gefühle wirklich zulassen, statt sie zu verstecken. Selbst Angst darf gezeigt werden – denn sobald sie bewusst wahrgenommen und zugelassen wird, kann sie sich wandeln. Das Weiche, Feminine, Empfangende, das in unserer Gesellschaft oft zu wenig Raum bekommt, ist in Wahrheit eine Kraft: Es macht möglich, dass Gefühle fliessen, dass sie sich transformieren, statt festzusetzen.

Yoga als Wegweiser

Auch auf der Yogamatte begegnet uns dieses Prinzip. Wir üben, in Kontakt mit dem zu bleiben, was gerade ist – nicht darüber hinwegzugehen, nicht die Zähne zusammenzubeissen, sondern zu spüren. Eine Haltung nicht mit Kraft zu „meistern“, sondern weich hineinzuatmen. Der Atem hilft, Kontrolle loszulassen. Er öffnet einen inneren Raum, in dem sich Emotionen bewegen dürfen.

So wird Yoga zu einer Schule der Präsenz: Gefühle nicht wegdrücken, sondern spüren. Den Körper nicht instrumentalisieren, sondern ihm zuhören. Was wir in dieser Praxis erfahren, verändert auch unser Sein im Alltag – und macht uns empfänglicher für Begegnung, ob mit Menschen oder Pferden.

Wissenschaftlicher Blick

Die moderne Stressforschung beschreibt genau diesen Mechanismus. Sorgen und Ängste aktivieren das sympathische Nervensystem – Flucht- oder Kampfbereitschaft. Der Körper schüttet Stresshormone aus, Herzschlag und Atem beschleunigen sich, Muskeln spannen an. Bleibt dieser Zustand bestehen, verwandelt er sich in chronische Anspannung, Schlafstörungen oder körperliche Beschwerden.

Yoga und bewusstes Atmen aktivieren hingegen den Parasympathikus – das Nervensystem, das für Regeneration und Ruhe zuständig ist. Pferde wirken ähnlich – wenn sie selbst in Ruhe sind. Ihre Präsenz, ihr gleichmässiger Rhythmus und ihr stilles Dasein holen uns aus der gedanklichen Spirale ins unmittelbare Spüren.

Einfache Übung für den Alltag

Du kannst diese drei Ebenen im Alltag selbst beobachten:

  1. Stell dir eine aktuelle Sorge vor. Nenne sie in einem Satz.

  2. Spüre tiefer. Welche Angst liegt darunter? Ist es die Angst, nicht genug zu sein? Etwas zu verlieren? Kontrolle zu verlieren?

  3. Lenke die Aufmerksamkeit in den Körper. Wo sitzt dieses Gefühl? Brust, Bauch, Kehle, Schultern?

Dann atme. Nicht um es wegzumachen, sondern um Raum zu schaffen. Lass den Atem sanft werden, gleichmässig. Und wenn du magst, sprich es aus. Es verändert den Moment, wenn du dich traust zu zeigen, was wirklich da ist.

Räume der Erfahrung

In unseren Retreats öffnen wir genau solche Räume. Dort geht es nicht um Theorie, sondern um Erleben. Wenn du auf dem Pferd sitzt, in der Weite der Landschaft, spürst du, was in dir ist. Wenn du danach auf der Yogamatte liegst, erfährst du, wie Atem und Körper dich wieder ins Gleichgewicht bringen. Es ist ein Weg, Sorgen nicht länger nur im Kopf zu drehen, sondern sie in Beziehung, Bewegung und Präsenz zu verwandeln.

Vielleicht liegt darin die tiefere Einladung: Angst und Beklemmung nicht als Gegner zu sehen, sondern als Botschafter. Sie zeigen uns, wo wir uns noch enger halten, als wir müssten. Mit Pferden, mit Yoga, mit bewusster Zeit für uns selbst lernen wir, dieser Botschaft zuzuhören, sie zuzulassen – und Schritt für Schritt freier zu werden.

Weiterführende Literatur & Impulse

Posted on August 31, 2025 .