Ich bin gerne allein. Nicht aus einem Mangel heraus, nicht weil ich Menschen meiden möchte – sondern weil ich diese besondere Qualität der Zeit mit mir selbst schätze. Ich mag Gesellschaft, liebe gute Gespräche, das Lachen in Gemeinschaft, die Energie, die zwischen Menschen entstehen kann. Und dennoch zieht es mich immer wieder in jene Räume zurück, in denen ich ganz bei mir bin – still, wach, durchlässig.
In den Retreats, die ich begleite, beobachte ich oft, wie schwer genau das für viele ist: die Augenblicke, in denen niemand spricht, in denen das Aussen still wird, in denen keine Ablenkung mehr da ist und nur noch man selbst übrig bleibt. Es ist ein Raum, der herausfordert – und gleichzeitig unglaublich viel schenken kann, wenn wir bereit sind, ihn zu betreten.
Deshalb möchte ich heute mit dir über das Alleinsein sprechen – über diese Form von Nähe, die nicht auf jemand anderen angewiesen ist. Über das stille Genährtsein von innen heraus. Und darüber, wie du lernen kannst, diese Zeiten nicht nur auszuhalten, sondern vielleicht sogar zu lieben.
Alleinsein ist nicht dasselbe wie Einsamkeit
Oft werden diese beiden Begriffe miteinander verwechselt, als gehörten sie zusammen – doch tatsächlich sind sie grundverschieden. Einsamkeit ist ein Gefühl des Mangels, eine Leere, die schmerzt. Man wünscht sich Verbindung, Nähe, Resonanz – und sie bleibt aus. Dieses Gefühl kann genauso gut inmitten einer Gruppe auftauchen wie am Abend in der stillen Wohnung.
Alleinsein dagegen ist ein Zustand. Nicht zwingend angenehm oder unangenehm, sondern offen. Es ist ein Raum, in dem du dir selbst begegnest – unverstellt, unkommentiert. Ein Raum, in dem du weder erklären noch funktionieren musst. Du bist einfach da – so wie du bist. Und wenn du es zulässt, kann daraus ein tiefes Gefühl von Verbundenheit entstehen: mit dir selbst, mit der Natur, mit einem Tier, mit dem Moment.
Die Kraft des Unbeobachteten
Wenn wir allein sind, entfällt das ständige Echo des Aussen. Niemand bewertet, niemand reagiert, niemand lenkt unsere Aufmerksamkeit nach draussen. Dadurch beginnt sich unser innerer Raum zu weiten – nicht immer sofort, manchmal erst nach einer Phase der Unruhe oder Langeweile.
Oft tauchen dann Gefühle auf, die wir im Alltag lieber wegschieben. Gedanken, die wir sonst nicht denken wollen. Fragen, die wir uns selten stellen. Und ja, das kann unbequem sein – aber es ist auch ehrlich. Es ist der Moment, in dem du wieder hörst, was du wirklich fühlst. In dem du spürst, was unter der Oberfläche schlummert. Und genau darin liegt die Kraft des Alleinseins: Es konfrontiert dich nicht – es lädt dich ein.
Wenn du diese Einladung annimmst, mit Neugier statt mit Widerstand, dann wirst du merken, dass du dir selbst viel näher bist, als du vielleicht dachtest. Dass da etwas in dir ist, das nicht beurteilt werden will, sondern einfach gesehen.
Einfach da sein – ohne etwas tun zu müssen
Für mich sind diese stillen Zeiten oft mit meinem Pferd Na’ima verbunden. Wir sind zusammen, aber wir reden nicht. Wir brauchen keine Worte, keine Absichten, keine Aufgaben. Wir stehen nebeneinander, atmen, schauen in dieselbe Richtung – und genau das genügt.
In solchen Momenten spüre ich, wie wohltuend es ist, einfach zu sein. Nicht produktiv, nicht erklärt, nicht gefordert. Es gibt nichts zu beweisen, nichts zu erreichen – nur dieses Dasein, das plötzlich weit wird.
Das Alleinsein erinnert mich daran, dass ich mich nicht ständig weiterentwickeln muss, um richtig zu sein. Dass nicht jede Minute mit Sinn gefüllt sein muss, um wertvoll zu sein. Manchmal entsteht die tiefste Form von Sinn genau dort, wo nichts passiert.
Wenn aus Stille Träume wachsen
Immer wenn ich über mehrere Tage allein bin – ohne zu viele Aufgaben, ohne Ablenkung – beginnen sich Gedanken zu klären. Aus dem Nebel des Alltags tauchen Bilder auf, manchmal Ideen, manchmal Wünsche, die ich vergessen hatte. Es ist, als würde die innere Stimme, die sonst übertönt wird vom Lärm des Tages, plötzlich wieder hörbar.
In dieser Leere entsteht Kreativität – nicht im Sinne von Machen, sondern im Sinne von Werden. Ich finde wieder Zugang zu dem, was mich ruft. Nicht weil ich es suche, sondern weil ich endlich still genug bin, es wahrzunehmen.
Wege zurück zu dir
Alleinsein kann man üben – und wie bei jeder Praxis beginnt es oft mit kleinen Schritten. Vielleicht magst du einmal ganz bewusst allein spazieren gehen, ohne Musik, ohne Ziel. Nur du, deine Schritte, der Wind. Wenn du ein Pferd hast, reite allein – spüre, wie sich euer Miteinander verändert, wenn kein Gespräch mehr dazwischen liegt.
Vielleicht wagst du es, ein Wochenende für dich allein zu verbringen – irgendwo, wo du dich sicher fühlst. Oder du gehst ins Kino, in ein Café, an einen Ort, der sonst mit Gesellschaft verbunden ist – und bleibst bei dir.
Auch in Retreats kannst du die Räume zwischen den Programmpunkten nutzen, um dir selbst zu begegnen. Nicht im Gespräch, sondern in der Stille.
Es geht nicht darum, dich zu isolieren – sondern darum, zu entdecken, wie reich diese Zeiten mit dir selbst sein können.
Denn dort, wo du lernst, dir selbst eine gute Gefährtin zu sein, wächst etwas still und kraftvoll heran: Vertrauen. Ruhe. Eine innere Weite, die dich trägt – auch dann, wenn das Leben wieder lauter wird.