Narben, Licht und Lebensfreude – was mein Pferd mich über Verletzlichkeit lehrt

von Pia

Mit dem Sommerfell sieht mein Pferd Lince immer besonders schön aus. Im warmen Sonnenlicht glänzt sein schwarzes Fell gesund und kräftig. Muskeln spielen unter der Haut, die Augen leuchten. Und doch sehe ich sie – diese Narbe. Gross und unübersehbar, wie ein Loch entstellt sie seinen Bauch. Ein stummer Zeuge dessen, was wir zusammen durchgemacht haben.

Jedes Mal, wenn ich sie sehe, zieht sich mein Herz kurz zusammen. Ich bin sofort wieder dort – in dieser Zeit, als sein Leben am seidenen Faden hing. Mehrere Wochen Tierklinik. Bangen. Hoffen. Zweifel. Nur noch Haut und Knochen war Lince damals. Doch er hat gekämpft – mit einer Kraft, die ich nie vergessen werde. Die ganze Geschichte kann ich ein andermal erzählen, es war eine schwere Zeit und am Ende ein kleines Wunder: Er lebt!

Heute galoppiert er gesund mit Lebensfreude über die Weide. Und obwohl diese Narbe so sichtbar ist, zeigt sie mir nicht nur Schmerz, sondern auch Stärke. Sie erzählt von Überlebenswille, Liebe, Vertrauen – und von einer Transformation, die ich erst viel später verstehen konnte.

„Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eindringt.“
– Rumi

Damals, inmitten der Angst, ist mir dieser Satz begegnet, aber statt Trost darin zu finden, habe ich ihn gehasst. Ich wollte nichts mit Licht und Wachstum zu tun haben – ich wollte einfach nur, dass mein Pferd gesund wird. Dass alles wieder "normal" wird.

Heute spüre ich, dass Rumi recht hatte. Durch diesen Schmerz ist etwas in mir aufgegangen. Ich bin weicher geworden, ehrlicher. Mit dieser erlebten Verletzlichkeit und dem durchlebten Schmerz wurde ich echter. Es kommt mir vor, als wäre mein Horizont dadurch ein bisschen weiter geworden und ich habe heute viel mehr Verständnis und Mitgefühl, wo ich vorher unbewusst wegschaute oder belächelte. Und ich erkenne besser: Jeder trägt sein Päckchen. Seine Unsicherheit, seinen Schmerz und seine Ängste.

Der Prozess des Heilens kann sich anfühlen, wie inneres Sterben. Nicht im dramatischen Sinn – sondern ganz leise. Etwas in dir zerbricht. Gewohnte Muster, falsche Sicherheiten, alte Geschichten, Identifikationen, die sich auflösen. Bevor Frieden kommt, herrscht oft Unruhe. Bevor du wieder ganz bei dir ankommst, fühlst du dich verloren.

Heilung ist nichts Sanftes oder Schönes in dem Moment selbst.
Es ist das Aushalten der Tiefe, das Bleiben im Schmerz, ohne eine Lösung zu haben, aber auch ein Loslassen und Vertrauen. Heilung heißt nicht, dass es sofort besser wird. Aber es heisst, nicht aufzugeben.

Narben – ob sichtbar oder nicht – tragen wir alle. Sie erzählen Geschichten. Manche werden nie ganz verheilen. Und doch leuchten wir manchmal gerade wegen ihnen. Sie geben uns eine Tiefe und machen uns menschlich. Ich würde sogar behaupten, dass ich mit Menschen, die selber Schmerz und Verletzung durchlebt haben, oft eine tiefere Verbundenheit fühle.

Dann kam diese Zeit, in der ich in ständiger Angst lebte. Am liebsten hätte ich mein Pferd in Watte gepackt, um es vor allem zu schützen. Jeder, dem ich von Lince erzählte, bekam auch gleich seine ganze Geschichte zu hören – inklusive der tragischen Wendung und dem Happy End. Die Verletzung war allgegenwärtig. Sie war mein Erklärungsversuch für Rückschritte, Unsicherheiten, ja manchmal sogar für meine eigenen Ängste. Ich reduzierte mein Pferd auf diese Krankheitsgeschichte – gab ihr zu viel Raum, zu viel Energie. Heute weiss ich: Auch das war ein Teil des Heilungsprozesses. Heilung verläuft nicht linear – sie ist kein klarer Schnitt zwischen „verletzt“ und „gesund“. Ich musste erst lernen, die Verletzung nicht als Identität zu begreifen, sondern als Teil einer Geschichte, die weitergeht. Es war eine bewusste Entscheidung Lince nicht länger als verletzliches, schwaches Wesen zu sehen, sondern als das kraftvolle, lebendige Pferd, das er trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Erfahrung ist. Ja, er hat Einschränkungen, ja, es gibt Momente, in denen wir besonders achtsam sein müssen. Aber das ist nicht alles, was ihn ausmacht. Ich habe gelernt, Schmerz und Schwäche ernst zu nehmen – ihnen den Raum zu geben, den sie verdienen. Aber auch, sie auf ihren Platz zu verweisen. Denn sie sind nur ein Teil – nicht das Ganze. Und ich habe gelernt, dass es viel Zeit und Vertrauen braucht. Heilung kann man nicht erzwingen und auch nicht beschleunigen, aber sie kommt.

Wenn ich heute meinem Pferd beim Herumtollen zusehe, erfüllt mich tiefe Dankbarkeit. Seine Narbe wird nie verschwinden. Aber sie erinnert mich daran, dass das Leben nicht perfekt sein muss, um schön zu sein. Dass wir wachsen dürfen – gerade an den Bruchstellen. Ich durfte erkennen, dass Schmerz und Tiefen untrennbar zum Leben gehören – und uns oft erst vollständig machen. Dass alles im Wandel ist, und manches Glück sich erst im Rückblick als solches zeigt. Selbst Narben können Geschenke sein – wenn wir bereit sind, sie als solche anzunehmen. Letztlich liegt es an uns, ob wir uns von ihnen verhärten und ängstigen lassen, oder ob wir den Weg wählen, der uns weich macht, dankbar und mutig zugleich.

Posted on August 2, 2025 .