Morgenroutinen sind in aller Munde. Ob in Podcasts, auf Instagram oder in unzähligen Selbsthilfebüchern – der Start in den Tag ist zum heiligen Ritual erhoben worden. Da wird meditiert, gejournalt, kalt geduscht, geatmet, manifestiert, gedehnt, gelobt und geschmiedet. Auch Abendroutinen stehen hoch im Kurs, um zur Ruhe zu finden, die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten oder das Nervensystem zu regulieren.
Ich selbst bin ein grosser Fan solcher Rituale. Sie helfen mir, den Tag bewusst zu beginnen – nicht einfach hineinzustolpern, sondern mit einer inneren Ausrichtung, mit dem Gefühl, nicht nur äusserlich, sondern auch in mir selbst angekommen zu sein. Es hat ja seinen Grund, warum wir sagen, jemand sei „mit dem falschen Fuss aufgestanden“. Wir spüren intuitiv, dass der Morgen die Richtung vorgibt – für unseren Körper, unseren Geist, unsere Stimmung.
Eine gut abgestimmte Morgenroutine ist wie ein Ton, der den ganzen Tag mitschwingt. Sie kann helfen, den eigenen Rhythmus zu finden, sich zu sammeln, die Energie auszurichten. Und sie kann ein Anker sein – besonders in Zeiten, in denen das Leben unübersichtlich wird.
Doch ich habe in letzter Zeit auch einen kritischen Blick auf meine Routinen geworfen. Ausgelöst wurde das durch einen Beitrag von Sina Port, in dem sie sich sehr ehrlich über den heutigen Morgenroutine-Hype geäussert hat. Ihre Worte haben mich zum Nachdenken gebracht – denn ich erkannte mich darin wieder.
Sina schrieb sinngemäss, dass eine Morgenroutine nicht zur dreistündigen Beschäftigungstherapie werden sollte, die uns dann davon abhält, wirklich ins Tun zu kommen. Und genau das kenne ich auch. Ich liebe meine ruhigen, langsamen Morgende, das erste Licht, der Duft von Kaffee, die Stille. Ich habe mir angewöhnt, erst einmal zu frühstücken, dann zurück ins Bett zu gehen, noch ein wenig zu lesen oder meinen Tag zu planen, ganz ohne Eile, mit etwas, das ich gern tue.
Das klingt herrlich – und ist es auch. Aber manchmal – besonders an Tagen, an denen viel ansteht – merke ich, wie diese Routine sich fast unmerklich ausdehnt. Wie ich damit beginne, den Rest des Tages zu verschieben, und mir gegen Abend hin die Zeit davonläuft. Die Morgenroutine wird dann nicht zum Sprungbrett, sondern zur Ausrede, mich noch nicht mit dem Konkreten, mit dem Machen, mit dem Unangenehmen zu befassen.
Und das ist die Kehrseite all dieser schönen Rituale: Sie können – wenn wir nicht achtsam damit umgehen – zur Vermeidung werden. Zur eleganten Form der Prokrastination. Deshalb habe ich für mich einen Weg gefunden, der mir Struktur schenkt, ohne mir die Freiheit zu nehmen. Ich arbeite mit wiederkehrenden Zeitblöcken in meinem Kalender. Darin ist nicht nur meine Morgenroutine verankert, sondern auch alle anderen Aufgaben des Tages. So sehe ich auf einen Blick: Habe ich wirklich Zeit für ein ausgedehntes Ritual – oder verträgt dieser Tag eher eine kurze, fokussierte Version?
Das schenkt mir Klarheit. Und – ganz wichtig – ein besseres Gefühl am Abend, weil ich merke: Ich bin nicht gestresst, ich bin einfach ehrlich mit mir selbst umgegangen. Denn Struktur ist für mich kein Korsett. Sie ist ein Rahmen, in dem ich mich freier bewegen kann. Ein Kompass, der mich durch den Tag führt – nicht als starres System, sondern als Einladung, meine Zeit bewusst zu gestalten.
Deshalb würde ich dir empfehlen: Wenn du eine Morgenroutine hast – oder mit dem Gedanken spielst, eine zu etablieren –, frag dich nicht nur, was du tun möchtest, sondern auch wann und wie lange. Wieviel Raum gibst du dir? Und was brauchst du wirklich?
Vielleicht reicht es an manchen Tagen, einfach in Stille deinen Kaffee zu trinken. Vielleicht möchtest du an anderen Tagen schreiben, atmen, lesen, dich bewegen. Wichtig ist nur, dass du die Zügel in der Hand behältst – nicht aus Zwang, sondern aus Liebe zu dir selbst.
Wie ist das bei dir? Hast du eine Morgenroutine – oder wünschst du dir eine? Und kennst du vielleicht auch diese Momente, in denen sie mehr Ablenkung als Ausrichtung ist?
Ich freue mich, wenn du deine Gedanken mit mir teilst.